Gordana

Das E-Book im neuen Gewand

 

 

Das Taschenbuch

 

 

Gordanas spontaner Entschluss, in das vom Bürgerkrieg erschütterte Bosnien zu reisen, um auf eigene Faust Familienmitglieder herauszuholen, stößt bei ihrem Mann Julian weder auf Verständnis noch auf Zustimmung. Trotzdem bricht sie auf, weil sie glaubt, ihr Vorhaben innerhalb zweier Tage durchführen zu können. Sie ist jedoch kaum in Sarajevo angekommen, da muss sie feststellen, dass sie sich im Vorfeld ein völlig falsches Bild von der Situation gemacht hat. Die Gesuchten sind nicht zu finden. Und die Stadt ist plötzlich von der Außenwelt abgeschnitten. Als sie schließlich eine Möglichkeit findet, Sarajevo hinter sich zu lassen, nimmt sie die Chance wahr. Begleitet von Angst, Schmerz und Ohnmacht hetzt sie anschließend durch die Krisengebiete, nie sicher, was die nächsten Stunden oder Tage bringen werden. Allein ihr Wunsch, die geliebten Menschen unter allen Umständen finden zu wollen, treibt sie voran. 

 

 Taschenbuch, 348 Seiten, ISBN: 978-3-754117-56-9

 

#Gordana #Julian #Jugoslawien #Abenteuer #Bürgerkrieg #Flucht #Familie #Kriegsverbrechen #Mord #KaticaFischer

Textauszug / Leseprobe

 

 

 1

 

 

Freitag – 30. Oktober – Gordana

 

Die Nachrichten verfolgend, die im Stundentakt von den erschreckenden Geschehnissen im zerfallenden Jugoslawien berichteten, fühlte Gordana eine stetig wachsende Furcht. Und so lief sie wie ein gefangenes Tier im Haus herum, nicht fähig, auch nur zwei Minuten irgendwo ruhig stehen oder sitzenzubleiben.

Zwei Stunden war es nun her, da hatte sich ihr Onkel Martonek telefonisch bei ihr gemeldet. Verfolgt durch feindliche Kämpfer war er mit seinen Männern tagelang in den Bergen unterwegs gewesen und dann irgendwie – vermutlich bei Nacht und Nebel – ins Zentrum von Zenica gelangt, wo sie von Gleichgesinnten versteckt wurden. Von dort aus sollte er mit seinen Leuten weitermarschieren, um gefangen genommene Kameraden aus einem Lager in irgendeinem der umliegenden Dörfer zu befreien. Viel Zeit war ihm für den privaten Anruf nicht geblieben, stellte sie schaudernd für sich fest, derweil sie sich ein Glas mit Wasser füllte, um es sogleich hinunterzustürzen. Er hatte bloß seinen Aufenthaltsort genannt und seinen Auftrag kurz umrissen, bevor die Verbindung so schlecht geworden war, dass sie nur noch Bruchstücke seiner Rede verstehen konnte. Am Ende hatte er „…Jelena und die Kinder nach Sarajevo, zur Familie von meinem Freund Gregor gegangen …“, und: „… nicht genug Geld für ein Flugticket …“, in den Hörer gebrüllt, bevor aus dem Hintergrund Geschützfeuer und Geschrei seine Stimme übertönt hatten. Danach war die Verbindung abrupt abgebrochen. Also hatte sie den Fernseher eingeschaltet, um die Nachrichten zu sehen. Dabei hatte sie dann auch erfahren, dass sowohl im Stadtzentrum als auch am Flughafen von Sarajevo geschossen wurden, was zur Folge hatte, dass man alle Flüge dorthin umleitete, oder ganz strich, und die in Sarajevo am Boden befindlichen Flieger gar nicht erst starten ließ. In der letzten Meldung hieß es dann, der Flughafen sei wieder geöffnet – auch für den Zivilverkehr. Aber wie lange dies anhalten würde, das konnte niemand mit Sicherheit sagen.

Als hätte man sie aus heiterem Himmel auf der Stelle festgenagelt, blieb Gordana mitten in ihrem Wohnzimmer stehen. Sie wollte nicht länger tatenlos herumsitzen, entschied sie. Martonek hatte schließlich nicht nur angerufen, um mit ihr zu plaudern. Vielmehr sah es für sie so aus, als habe er sie um Hilfe bitten wollen, dies jedoch nicht mehr geschafft, weil die Telefonverbindung unterbrochen worden war!

Für einen kurzen Moment dachte Gordana daran, ihren Mann zu bitten, dass er sie begleitete. Doch dann entschied sie sich dagegen, weil sie wusste, dass Julian gerade alle Hände voll damit zu tun hatte, die geschäftlichen Dinge so vorzubereiten, dass er nach dem Wochenende beruhigt seinen Urlaub antreten konnte. Nein, es war wirklich nicht nötig, dass er mitfuhr, redete sie sich ein. Wenn nämlich alles so verlief, wie sie sich das vorstellte, dann würde sie ohnehin am Sonntagabend wieder zu Hause sein.

 

Julian hatte kaum die Haustür hinter sich geschlossen, da wurde ihm von Gordana mitgeteilt, dass sie nach Bosnien reisen wolle, um die Frau und die Kinder ihres Onkels zu holen. Daraufhin entstand eine ernste Diskussion, die immer lauter wurde, je nachdrücklicher beide ihren Standpunkt vertraten.

„Wenn du das wirklich tust, werde ich … Dann … Dann wirst du auch die Konsequenzen dafür tragen müssen!“ Der groß gewachsene Mann war mittlerweile völlig außer sich, denn die Angst um die Liebe seines Lebens und die Mutter seiner Kinder ließ ihn kaum noch klar denken. „Du hast offenbar vergessen, dass du eine Familie hast, die dich braucht – und zwar hier! Nichts, aber auch absolut gar nichts kann mich davon überzeugen, dass dein Vorhaben wirklich nötig ist!“

In Gordanas Augen glomm der Ärger, während sich ihr sonst sinnlich wirkender Mund zu einem schmalen weißen Strich zusammenpresste. Sie hatte sich auf eine unerfreuliche Auseinandersetzung eingestellt, erinnerte sie sich. Dass er aber so uneinsichtig reagieren würde, das hatte sie nicht erwartet.

„Nun komm mal wieder runter!“ Sie bemühte sich um eine beherrschte Stimme. „Was ist denn so schlimm an meiner Absicht? Du weißt doch, dass Jelena von sich aus nie um Hilfe bitten würde. Ich könnte …“

„Was?“, unterbrach Julian angriffslustig. „Was könntest du schon ausrichten? Du bist dir ja noch nicht einmal sicher, ob sie überhaupt da ist, wo sie angeblich hinwollte!“ Bevor man ihn unterbrechen konnte, redete er schnell weiter: „Vielleicht ist sie mit den Kindern längst über alle Berge und hat sich nur nicht gemeldet, weil kein Telefon verfügbar war! Willst du wirklich dein eigenes Leben riskieren, um ein paar Menschen in einem Land zu suchen, welches durch einen der blutigsten Bürgerkriege dieses Jahrhunderts beherrscht wird? Bist du bekloppt oder was? Oder bist du wirklich so naiv, zu glauben, dass dir, als einer hochnoblen Samariterin nichts geschehen kann? Dass man dich nicht antasten wird, nur weil du einen deutschen Pass bei dir hast? Oder dass man dich mit einem roten Teppich empfangen wird, weil du ja schließlich ein löbliches Anliegen hast?“

„Sprich nicht in diesem Ton mit mir“, verlangte Gordana. „Ich bin schon lange erwachsen und muss mich von dir nicht wie ein unmündiges Kind behandeln lassen!“ Er konnte einfach nicht damit aufhören, grollte sie innerlich. Obwohl er genau wusste, wie verhasst es ihr war, wenn er sie so von oben herab belehrte! Selbst nach über zwanzig Jahren Ehe meinte er immer noch den Teenager vor sich zu haben, den er hatte heiraten müssen, weil er Vaterfreuden entgegensah, und den es danach noch zu formen und im eigenen Sinne zu erziehen galt! … Nein, berichtigte sie sich gleich darauf selbst. Er hatte es nicht gemusst. Es war auf beiden Seiten Liebe auf den ersten Blick und praktisch schon vom ersten Aufeinandertreffen an unabwendbar gewesen, dass sie ein Paar wurden. Im Grunde hätte ohnehin keiner von ihnen ohne den anderen leben können, denn sie waren im wahrsten Sinne des Wortes füreinander bestimmt. Doch das hieß noch lange nicht, dass nicht jeder von ihnen eine eigene und ganz persönliche Meinung zu bestimmten Dingen haben durfte. Bisher war es auch immer so gewesen, dass man die Ansichten des anderen akzeptierte – oder doch zumindest tolerierte. Aber jetzt sah es so aus, als ob sie zum ersten Mal an einem Punkt angelangt wären, an dem es keinen Kompromiss zu geben schien. Sie war nicht bereit, ihren Wunsch aufzugeben! Und er zeigte sich ungewöhnlich hartnäckig, obwohl er ihr doch sonst jeden Wunsch an den Augen ablas, um diesen dann beinahe umgehend zu erfüllen.

Julian atmete einmal tief durch, um sich dadurch ein wenig zu beruhigen. Sie war unmöglich, urteilte er im Stillen. Stur, eigensinnig, vollkommen unberechenbar – und wunderschön in ihrem selbstgerechten Eifer. Dennoch war er diesmal nicht bereit, nachzugeben! Auch wenn sie ganz genau wusste, wie sie ihn einwickeln konnte, würde sie diesmal keinen Erfolg haben! Vielleicht … Ja! Sie würde sich garantiert anders besinnen. Sie musste! Wenn man sie nämlich vor die Wahl stellte, konnte sie nur eine Entscheidung fällen!

Der groß gewachsene Mann wäre nicht im Traum darauf verfallen, zu glauben, dass es irgendetwas geben könnte, was für seine Frau wichtiger war, als ihre Kinder. Selbst er schien stets an zweiter Stelle zu stehen, obwohl er eigentlich niemals Grund gehabt hatte sich über Vernachlässigung zu beklagen. Warum auch immer sie dieses hirnrissige Vorhaben geplant haben mochte – er würde sie davon abhalten!

„Ich meine es vollkommen ernst“, bekräftigte er nun. „Wenn du jetzt wirklich gehst, dann brauchst du nicht mehr zurückkommen. Entweder, du entscheidest dich für uns vier und bleibst bei uns. Oder du setzt deinen Kopf durch und versuchst eine Heldin zu werden.“ Genau das war es nämlich, stellte er im Stillen für sich fest. Offenbar war die Zeit wieder einmal reif für eine neue Herausforderung! „Du kannst nicht alles haben. Entweder Mann und Kinder, oder Abenteuer und Nervenkitzel. So ist nun mal das Leben, mein Schatz.“

Gordana wollte ihren Ohren nicht trauen. Er wagte es tatsächlich, dachte sie verblüfft. Er stellte sie vor die Wahl, obwohl er wusste, in welchen Gewissenskonflikt er sie damit stürzte? Wie barbarisch! Wie unmenschlich! Wie konnte er nur? Hatte er denn kein Herz im Leibe?

„Ich denke“, brachte sie endlich hervor, „unsere Kinder sind alt genug, um nicht unbedingt auf ihre Mutter angewiesen zu sein. Möglicherweise werden sie nicht gleich verstehen, was mich zu meinem Entschluss bewogen hat. Aber sie werden die kurze Zeit meiner Abwesenheit sicher verschmerzen. Immerhin bist du ja auch noch da, um ihnen beizustehen. Und ich … Ich kann nicht anders. Du weißt … Es … Er kann selbst nichts machen, weil er bei seiner Truppe bleiben muss. Aber ich … Ich muss etwas tun!“ Sie meinte an dem riesigen Kloß ersticken zu müssen, der sich mit einem Mal in ihrer Kehle breitmachte. „Warum sonst hätte er mich inmitten eines feindlichen Angriffes angerufen.“ Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und verließ mit eiligen Schritten den Raum. Im Flur angekommen, stürmte sie sogleich die Treppe zum Obergeschoss hinauf. Sie wollte nicht nachdenken, nahm sie sich vor. Weder über Julian und sein Ultimatum, noch über sich selbst und die Richtigkeit ihrer Entscheidung. Wenn sie es nämlich tat, würde sie wahrscheinlich einen Rückzieher machen – und diesen dann für den Rest ihres Lebens bereuen!

Im Schlafzimmer angekommen, zurrte sich Gordana ihren Rucksack auf den Rücke und nahm dann die vorbereitete Reisetasche vom Bett. Pass, Scheckkarte und den Umschlag mit dem Bargeld hatte sie kurz vor Julians Heimkehr in der Gürteltasche verstaut, die jetzt noch im Rucksack lag, die sie sich aber später um die Taille befestigen wollte. Die nicht unerhebliche Summe hatte sie ursprünglich an Jelena überweisen wollen, dann aber doch liegen lassen, weil sie dem Postsystem im Krisengebiet nicht traute. Doch nun sollte das Geld seine Bestimmung erfüllen, dachte sie, indem sie sich auf den Weg zur Haustür machte.

Ungeachtet ihres Ehemannes, der mit verschränkten Armen im Durchgang zum Wohnzimmer stand und ihr offenbar noch etwas sagen wollte, stürmte Gordana aus dem Haus. Weder Julians besorgt klingender Ruf, noch sein anschließender Fluch konnten sie dazu bewegen, sich noch einmal herumzudrehen. Wie von Furien gehetzt rannte sie zum nächsten Taxistand, wo sie den Fond des erstbesten Wagens aufriss, um zuerst ihre Reisetasche und dann sich selbst auf die Rücksitzbank zu werfen.

„Zum Bahnhof“, verlangte sie atemlos.

„Ich dachte, es geht erst nächste Woche los“, wunderte sich der Fahrer. „Haben Sie nicht gesagt, Sie würden erst Montag in Urlaub fah...“ Er brach mitten im Wort ab, als ihm die abweisende Miene seines Fahrgastes bewusstwurde. „Tschuldigung“, murmelte er beschämt. „Geht mich wirklich nichts an.“

Während der Taxifahrer startete, setzte sich Gordana mit zusammen gepressten Lippen zurecht. Sie kannte ihren Chauffeur gut, denn er war Stammkunde in Julians Getränke-Shop. Und normalerweise gab sie sich nie so unzugänglich. Aber heute hatte sie keine Lust auf einen lockeren Plausch, weil sie erstens viel zu angespannt und außerdem vollkommen durcheinander war. Wenn sie Glück hatte, überlegte sie, würde sie sofort – oder wenigstens so schnell wie möglich! – eine Zugverbindung nach Frankfurt bekommen. Und wenn sie weiterhin Glück hatte, würde sie vielleicht schon bald in einem Flugzeug sitzen, auf dem Weg in das Land, in welchem sie geboren war und wo sie die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Für sie war es immer noch ein Land, auch wenn es mittlerweile in noch nicht offiziell anerkannte Einzelrepubliken unterteilt wurde!

 

Vier Stunden nach ihrem Aufbruch stand Gordana endlich am entsprechenden Abfertigungsschalter des Frankfurter Flughafens, ungeduldig darauf wartend, dass die Formalitäten beendet wurden.

„Sind Sie sicher, dass Sie da hinwollen?“ Der junge Mann hinter dem Schalter sah sein Gegenüber skeptisch an. „Nichts für ungut“, setzte er sofort nach, als er den finsteren Blick seiner Kundin bemerkte. „Aber wir sind dazu angehalten worden, unseren Fluggästen die Gefahr noch einmal deutlich zu machen. Außerdem besteht jederzeit die Möglichkeit, dass man uns die Landeerlaubnis verwehrt, was im Klartext bedeutet, dass Sie vielleicht gar nicht dort ankommen, wo Sie eigentlich hinwollen.“

„Schon gut.“ Gordanas Auftreten wirkte überaus arrogant, resultierte jedoch allein aus der Unsicherheit heraus, die ihr Inneres beherrschte. Darum bemüht, niemanden merken zu lassen, dass sie im Grunde Angst vor der eigenen Courage hatte, spielte sie die Selbstsichere so gut, dass selbst Menschen, die sie gut kannten, in diesem Moment nicht an ihrer Stärke und Überlegenheit gezweifelt hätten. „Mir ist die momentan angespannte Lage durchaus bekannt. Trotzdem will ich das Ticket haben. Und außerdem möchte ich einen Fensterplatz.“

Der Angestellte der Fluggesellschaft hatte unwillkürlich den Kopf eingezogen, denn der plötzlich scharfe Ton seiner Kundin hatte ihn überrascht. Eigentlich hatte er sie als sehr höflich und überaus sympathisch eingestuft. Aber nun war er ein wenig irritiert, weil sie so ganz und gar nicht seinem Urteil zu entsprechen schien. Abgesehen von ihrer Unfreundlichkeit war sie jedoch eine äußerst faszinierende, sehr gepflegt wirkende Mittdreißigerin. Sie musste mindestens einsachtzig groß sein. Auch besaß sie eine Figur, die nichts zu wünschen übrigließ – der grüne Pullover und die enge schwarze Jeans ließen wohlproportionierte Rundungen erkennen! Ihr Haar war so rot, wie das Laub herbstlich verfärbter Ahornbäumen. Zudem waren Strähnen hineingearbeitet worden, die um einige Nuancen dunkler erschienen, was ihr besonders gut stand. Ja, sie gehörte unübersehbar zu den Frauen, die eine zeitlose und somit unvergänglich scheinende Schönheit besaßen. Ihr Mund schien allein zum Küssen geschaffen. Und die großen von dichten langen Wimpern bekränzten braunen Augen schimmerten verführerisch – wobei in ihren unergründlichen Tiefen nun auch unübersehbare Ungeduld aufglomm.

Mit einem Mal hatte der junge Mann das Gefühl, sein Gegenüber wüsste genau, was in seinem Kopf vorging. Also wandte er sich schleunigst ab, um die Daten in seinen Computerterminal einzugeben. Während dann das Flugticket und die Bordkarte ausgedruckt wurden, hatte er ein wenig Zeit, um sich zu fangen, sodass er am Ende sogar ein ungezwungenes Lächeln zustande brachte.

„Bitte sehr“, sagte er mit belegter Stimme, indem er die Dokumente seiner Kundin entgegenhielt. „Check-in ist in zehn Minuten.“

Gordana war der bewundernde Blick nicht entgangen, der ihrer Erscheinung gegolten hatte. Und normalerweise wäre sie geschmeichelt gewesen, zumal ihr Gegenüber ein relativ junger Mann war – vermutlich nicht viel älter als fünfundzwanzig. Doch heute stand ihr der Sinn weder nach Komplimenten – egal ob laut ausgesprochen, oder anhand entsprechender Körpersprache deutlich gemacht! – noch nach zusätzlichen Belehrungen oder Warnungen, denn davon hatte sie bereits genug gehört. Also ließ sie bloß ein knapp bemessenes Kopfnicken sehen, derweil sie die Papiere an sich nahm. Mit ihren Gedanken bereits in einer völlig anderen Welt, eilte sie anschließend in die gewiesene Richtung.

Selbstverständlich wusste sie genau, worauf sie sich einließ, stellte sie im Stillen für sich fest, während sie die riesige Empfangshalle des Frankfurter Flughafens durchquerte. Schließlich war sie weder blind noch taub, noch blöd. Und dass sie sich in höchste Gefahr begab, war ihr auch bewusst. Na ja, wenn sie ehrlich mit sich selbst war, dann wäre sie jetzt am liebsten umgekehrt, um sich in die Sicherheit von Julians Armen zu flüchten. Ja, sie hätte liebend gern Augen und Ohren zugekniffen und sich dabei einzureden versucht, dass es absolut unnötig war, den sicheren Alltag eines glücklichen Familienlebens hinter sich zu lassen, um in einem weit entfernten Land sein Leben aufs Spiel zu setzen. Andererseits konnte sie gar nicht anders! Da war ein Zwang zum Handeln in ihrem Inneren, der drängender war, als jedes andere Gefühl, das sie bisher verspürt hatte. Es ließ sich nicht ignorieren, geschweige denn bekämpfen! Ja, es kam ihr so vor, als hinge ihr eigenes Leben davon ab, dass sie gehorchte. Außerdem war sie wahrscheinlich die Einzige, die noch irgendetwas ausrichten konnte!

Jelena war drei Jahre jünger als sie selbst, aber vollkommen auf sich allein gestellt, erinnerte sich Gordana. Ihre Eltern waren bereits zu Anfang des Krieges von marodierenden Plünderern niedergemetzelt worden. Und ihr Ehemann Martonek gehörte schon seit den ersten Kriegstagen einer Freiwilligenarmee an, welche sich gegen die serbischen Aggressoren stellte und gleichzeitig den Menschen zu helfen versuchte, die sich nicht allein gegen den Feind wehren konnten. Vom eigenen Hof vertrieben, so wie viele andere aus ihrem Heimatdorf, war sie mit den Kindern zur Adriaküste geflohen, wo sie bei einem engen Freund ihres Vaters vorübergehend Unterschlupf gefunden hatte. Doch war sie auch dort vom Krieg eingeholt worden, sodass sie wiederum mit ihren Kindern geflüchtet war – diesmal zu einer Bekannten nach Mostar. Obwohl man sie bereits mehrmals aufgefordert hatte, sie solle nach Deutschland kommen, wo sie in der Tat absolut sicher gewesen wäre, hatte sie sich strikt geweigert, weil sie weder ihr Heimatland noch ihren Mann verlassen wollte. Auch wenn dieser nur hin und wieder vorbeikam, um ihr Geld zu bringen und nach seiner Familie zu sehen, hatte sie in erreichbarer Gegend bleiben wollen, damit sie ihn wenigstens ab und zu zu Gesicht bekam. Allerdings war es Martonek in den letzten Wochen nicht möglich gewesen, seine Familie zu besuchen, weil er in seiner Einheit gebraucht wurde. Seinem ausdrücklichen Wunsch folgend, war Jelena vor ein paar Tagen nach Sarajevo weitergezogen, wo sie laut seiner letzten Aussage bei einer ehemaligen Schulfreundin bleiben konnte. Doch war dies offenbar auch nur eine vorübergehende Lösung gewesen, denn sie schien mittlerweile doch noch zur Vernunft gekommen zu sein. Das Problem war nur, dass sie jetzt keine finanziellen Mittel mehr besaß und daher auf Hilfe von anderen angewiesen war, um nach Deutschland ausreisen zu können.

Dem Aufruf folgend, der die Passagiere für den Flug nach Sarajevo zur Maschine rief, ging Gordana mit ihren Mitreisenden die Gangway entlang, nahm dabei jedoch keines der Gesichter bewusst wahr. Im Geiste damit beschäftigt, die Einzelheiten ihrer sogenannten Hilfsaktion noch einmal zu überdenken, folgte sie den Anweisungen der Flugbegleiterin mehr automatisch als aufmerksam. Allein das Drängeln eines Mittfünfzigers brachte ein unmutiges Runzeln auf ihre Stirn. Doch war der Mann gleich wieder vergessen, sobald er an ihr vorbei war. Stattdessen verstaute sie ihr Handgepäck in dem dafür vorgesehenen Fach und setzte sich dann hin.

Entgegen Julians Annahme, seine Frau suche bloß eine neue Herausforderung, um ihr Können und ihre Willensstärke auf eine weitere Probe zu stellen, war Gordanas Motiv in diesem Fall ein ganz und gar gewöhnliches – nämlich die Liebe zu ihrer Familie. Allein das Wissen, dass einer ihrer Angehörigen in Not war, hätte schon ausgereicht, damit sie alles andere stehen und liegen ließ, um den Hilfsbedürftigen beistehen zu können. Doch war es in diesem Fall noch etwas anderes, was sie zusätzlich antrieb, ihre eigene Angst zu überwinden – und alle Vernunft ausschaltete: Jula, Gordanas Großmutter, hatte den eigenen Nachzügler und die Enkelin gemeinsam aufgezogen, bis zu dem Zeitpunkt, da das Mädchen der Mutter nach Deutschland folgte. Aus diesem Grund sah Gordana so etwas wie einen Zwilling in Martonek und liebte ihn daher womöglich noch mehr als Peter, ihren acht Jahre jüngeren leiblichen Bruder. Entsprechend dieser engen Bindung und trotz der räumlichen Trennung, hatten die beiden den Kontakt nie abbrechen lassen, was nicht nur der Post, sondern auch den jährlichen Familientreffen zu verdanken war, die selbst nach dem Tod seiner Eltern und der Auswanderung des älteren Bruders nach Amerika durchgeführt wurden. Als der Krieg ausbrach, hatten sie zwar nur noch sporadisch voneinander gehört, waren aber eigentlich immer auf dem Laufenden, was das Befinden des anderen betraf.

Während das Flugzeug zum Start ansetzte, schweiften Gordanas Gedanken weit in die Vergangenheit zurück, wobei die Erinnerungen an ihre früheste Kindheit sehr widersprüchliche Gefühle in ihr hervorriefen. Selbstverständlich war sie sich der Liebe ihrer Mutter stets sicher gewesen, obwohl diese so gut wie gar keine Zeit für sie aufbrachte, weil sie als geschiedene Frau den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind hatte verdienen müssen. Aber die Hänseleien der anderen Kinder, weil sie ohne Vater aufwuchs, wo doch jeder einen Vater aufzuweisen hatte, und das frühe Wissen, dass sie von ihrem Erzeuger bereits vor ihrer Geburt abgelehnt worden war, hatte sie stets zornig gemacht. Allein Martonek war stets zur Stelle gewesen, wenn sie jemanden zum Reden brauchte. Auch war er stets ein verlässlicher Verbündeter gewesen, wenn es darum ging, hinterlistige Angreifer abzuwehren oder Großmäuler in ihre Schranken zu weisen. Sie konnte also gar nicht anders! Sie musste seiner nicht ausgesprochenen Bitte nachkommen, denn das war sie ihm einfach schuldig.

Erschöpft durch die psychische Anstrengung der letzten Stunden lehnte sich Gordana seufzend zurück. Sie wusste, kaum einer würde wirklich Verständnis für ihr Verhalten haben. Dennoch bereut sie nicht eine Sekunde lang, sich auf den Weg gemacht zu haben.