„CASSANDRAS BESTIMMUNG“ ist der dritte Teil der YDEN-Reihe und knüpft an den Roman „ADLERHERZ“ an, dem wiederum „XEYOS TRÄNEN“ vorangegangen ist. Es ist eine weitere fantastische Geschichte, die ein Vater seiner todkranken Tochter erzählt, um sie aufzumuntern und ihr – sofern es geht – die Furcht vor dem unausweichlichen Ende zu nehmen. Obwohl sie zusammengehören, sind die drei Bücher in sich abgeschlossen und können daher jedes für sich allein gelesen.
Lange Zeit glaubt Cassandra, dass sie ein ganz gewöhnliches Mädchen ist. Selbst als sie erkennt, dass sie mit außergewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattet ist, will sie sich nicht als etwas Besonderes sehen. Doch dann begegnet sie Menschen, die ebenfalls übersinnlich begabt sind, und muss sich endlich eingestehen, dass die Bilder und Szenen, die sie während ihrer vermeintlichen geistigen Aussetzer sieht, keineswegs Hirngespinste sind. Vielmehr soll sie darauf vorbereitet werden, dass sie – gemeinsam mit einigen Helfern – den Kampf gegen ein bösartiges Geschöpf aufnehmen soll, welches eine Gefahr für die gesamte Menschheit darstellt.
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Textauszug
Prolog
Die Geschichten, die sie in den vergangenen Tagen von ihrem Vater gehört hatte, kreisten immer noch durch Yzas Kopf. Von fantastischen Wesen, Unsterblichen, Magiern und Hexen wurde ihr erzählt, die im Kampf zwischen Gut und Böse viele Abenteuer erlebten. Auch von Indianern und ihrer Kultur wurde geredet. Dabei hatte es sich fast immer um Menschen gehandelt, die außergewöhnliche Fähigkeiten besaßen, und die allesamt ein aufregendes und abwechslungsreiches Schicksal erleben durften. Vor allem die Charaktere von Eric Harper, der den indianischen Namen Adlerherz erhalten hatte, und die seiner Familie waren ihr förmlich ans Herz gewachsen, denn ihre Geschichte war tatsächlich so fesselnd gewesen, dass sie es kaum erwarten konnte, mehr zu hören.
„Was ist aus Erics Schwester Corinne geworden? Durfte sie ein glückliches Leben mit Lachender-Bieber verbringen?“, fragte Yza. „Und sein Sohn Arthur? Wie ist es ihm ergangen?“
Bryan war müde, denn er hatte bereits einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich. Dennoch dachte er nicht daran, seiner todkranken Tochter zu sagen, dass er eine Pause benötigte. Sarah, seine Frau, war nicht weniger erschöpft als er. Sie schlief bestimmt schon, um für den kommenden Tag fit zu sein. Er hingegen wollte noch eine Weile bei seiner Jüngsten sitzen, denn viel gemeinsame Zeit blieb ihnen vermutlich nicht mehr. Die Geschichten, die er ihr seit nunmehr vier Wochen erzählte, sollten sie ablenken. Ja, er wünschte sich von Herzen, dass sie für eine Weile vergessen sollte, dass sie mittlerweile ans Bett gefesselt war und nur auf seinen oder auf den Armen ihres großen Bruders Leonard in den Wohnraum hinunterkommen konnte.
Woher die Worte kamen, die aus ihm herausströmten, sobald er sich bequem zurückgelehnt hatte, wusste Bryan nicht. Genauso wenig konnte er verstehen, wieso er das Gefühl hatte, dass nicht alles erfunden war, was er hervorbrachte. Allerdings dachte er nicht weiter darüber nach, denn es spielte keine Rolle. Wichtig war allein, dass Yza die Schmerzen und das unerbittlich nahende Ende für eine Weile ausblenden konnte.
„Corinne ging es gut, denn sie verstand es, ihre Liebe für einen Indianer geheim zu halten und den Mann ihres Herzens dadurch zu schützen“, begann er zu erzählen. „Sie hat den Gemischtwarenladen ein paar Jahre nach Erics Tod verkauft, den sie in seinem Auftrag geführt hat. Danach hat sie sich auf ihre kleine Farm zurückgezogen. Na ja, nicht für lange. Ihre Hühner und ihr Gemüsegarten waren keine wirkliche Herausforderung für eine Frau, die es gewohnt war, wie ein Mann zu schuften. Darum hat sie mit Lachender-Bieber und ein paar anderen Indianern eine Tischlerei aufgebaut, die sich relativ schnell zu einer kleinen Möbelmanufaktur entwickelte. Und Erics Tochter Carolyn sorgte mit ihrem Ehemann Schwarzer-Stein dafür, dass die Sachen gut zahlende Abnehmer fanden, was ihrer Familie und der Dorfgemeinschaft für eine Weile zu einem relativ komfortablen Leben verhalf. Arthur hingegen brauchte lange, um sein Glück zu finden.“
„Ist er wieder nach Hause gekommen?“, wollte Yza wissen.
„Nein“, gab Bryan zur Antwort. „Dass seine Eltern kurz hintereinander verstorben waren, erfuhr er erst ein Jahr nach dem Unglück, denn er ist praktisch von einem Schiff aufs nächste gegangen, um unter wechselnden Kapitänen die Erde zu umsegeln. Aus diesem Grund hat ihn der Brief seiner Schwester nicht rechtzeitig erreicht. Aber selbst wenn er ihn beizeiten bekommen hätte, wäre er nicht zur Beisetzung erschienen. Es zog ihn nämlich nichts an den Ort zurück, an dem er aufgewachsen war. Er hat sich auch in der Folgezeit nicht dazu überwinden können, wieder dorthin zu gehen, wo einst seine erste große Liebe begraben wurde. Selbst seinen Sohn Joseph hat er nicht sehen wollen, weil er keinerlei Bindung zu seinem Erstgeborenen verspürte. Aber er hat seinen späteren Nachkommen von den Indianern und dem Land erzählt, das er voller Kummer und Schmerz verlassen hatte.“
„Er hat also noch mal geheiratet?“ Yza war sichtlich gespannt.
„Ja, er hat noch einmal geheiratet“, bestätigte Bryan lächelnd. „Aber erst im reifen Alter und nur, weil er seiner Haushälterin und einzig echten Freundin eine sichere Zukunft bieten wollte. Er hatte nämlich im Laufe seines Lebens ein ansehnliches Vermögen durch verschiedene Geschäfte erworben, und dachte, dass das Zusammenleben auch nach der formellen Eheschließung so verlaufen würde, wie gewohnt. Doch Deborah liebte ihn schon lange und ließ sich darum auch nicht davon abhalten, ihn zu ihrem richtigen Ehemann zu machen. Nun, das Ergebnis ihrer Beharrlichkeit war ein Sohn, der trotz der vierunddreißig Lebensjahre seiner Mutter vollkommen problemlos und gesund zur Welt kam. James blieb ein Einzelkind. Er heiratete mit zweiundzwanzig und zeugte dann selbst acht gesunde Söhne.“
„Wow! Stolze Leistung.“ Yza hatte Mühe, eine bequeme und vor allem schmerzfreie Liegeposition zu finden. Das ließ sie jedoch nicht erkennen, denn sie wollte nicht riskieren, dass ihr Vater seine Erzählung abbrach. „Was ist aus ihnen geworden?“
„Du willst es aber ganz genau wissen, was?“ Bryan lachte. „Nun, sie wurden auf teure Privatschulen und später dann auf renommierte Universitäten geschickt, damit sie die bestmögliche Ausbildung bekamen. Danach haben sie das Vermächtnis ihres Großvaters so clever verwaltet, dass alle davon leben konnten.“
„Wie langweilig“, schnaubte Yza. „Da ist die Geschichte von Arthurs Erstgeborenem bestimmt interessanter. Oder?“
„Kann man so sehen, ja.“ Bryan brauchte einen Moment, um das bereits zurechtgelegte Grundgerüst seiner Geschichte neu zu ordnen. „Joseph galt bei den Weißen aufgrund seiner seherischen Gabe als geisteskrank und wurde daher von den vermeintlich zivilisierten Menschen gemieden, so als hätte er eine ansteckende Krankheit. Allein Grace, ein von Geburt an gehbehindertes Mädchen, ließ sich nicht abschrecken und begann eine Freundschaft mit ihm, die über die Schulzeit hinaus Bestand hatte. Später haben sie dann geheiratet und vier Söhne bekommen. Leider fielen die drei älteren in verschiedenen Kriegen Anfang des vorigen Jahrhunderts. Tyron, der jüngste, war der Einzige, der nicht zum Militär musste, weil ja schon drei seiner Brüder für Ehre und Vaterland ihr Leben gelassen hatten. Allerdings wurde ihm die Verantwortung für die Harper-Ranch und die darauf lebenden Menschen aufgeladen, was seine eigene Lebensplanung völlig auf den Kopf stellte. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Damian seine Aufgaben, konnte jedoch auch nicht besser wirtschaften, weil man ihm nicht nur in Oaktown dauernd Steine in den Weg legte. Er galt als reiner Indianer, obwohl er nur noch ein Achtel Indianerblut in ich trug. Entsprechend respektlos und unfair wurde er behandelt. Als er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit einem Orden und einer zusätzlichen Belobigung durch seinen General zurückkam, wurde es vorübergehend besser. Doch das hielt nicht lange an, denn er schnappte sich die hübscheste Frau, die in Oaktown herumlief, und nahm sie mit auf die Ranch. Sein Sohn Robert tat es ihm später nach. Kein Wunder also, dass die Harper-Männer in der Stadt nicht gern gesehen waren.“
„Blöde Rassisten!“ Yzas Wangen leuchteten knallrot, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass sie sich ärgerte. „Als ob Hautfarbe oder Herkunft wirklich so wichtig wären!“
„Die Menschen sind nicht so geboren, das weißt du“, versuchte Bryan zu beschwichtigen. „Sie werden vielmehr so gemacht. Kinder lernen von ihren Eltern. Und schwache Charaktere lassen sich nur zu gern von wortgewandten Anführern beeinflussen, weil sie sich in der Gesellschaft vermeintlich starker Persönlichkeiten sicherer fühlen.“
„Trotzdem blöde Rassisten“, schimpfte Yza. „Wenn ich könnte, würde ich ihnen allen mal ordentlich was über die Rübe ziehen, damit sie sehen, dass Blut bei allen Menschen die gleiche Farbe hat!“
„Du kannst ja richtig garstig sein.“ Bryan grinste breit. „Nun, ich denke, dass jeder am Ende genau die Retourkutsche oder Strafe bekommt, die er verdient.“
Yza schwieg ein Weilchen, wobei sie sich auch wieder beruhigte. Doch dann sah sie ihren Vater erwartungsvoll an.
„Wie geht es mit den Harpers weiter?“, wollte sie wissen. „Und vergiss nicht die Yden. Deren Geschichte ist doch noch nicht zu Ende. Oder?“
„Nein, das ist sie nicht“, bestätigte er. „Aber die muss ich dir nicht separat erzählen, denn ihr Schicksal ist seit der unumkehrbaren Verschmelzung von Arvyd und Eric Harper im Grunde das Gleiche, wie das der Menschen. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass auch alle anderen Verbindungen zwischen den Menschen und den Unsterblichen dauerhaft waren. Selbst nach dem Tod ihrer menschlichen Träger blieben die Lebensfunken der Yden mit den Seelen ihrer Symbionten untrennbar verbunden und wurden durch jede neue Verschmelzung mehr oder weniger verändert. Allein die Erinnerung an die vergangenen Existenzen ging bei einigen ganz verloren, während andere ihren angesammelten Erfahrungsschatz nutzen konnten, um ihren neuen Symbionten das Leben zu erleichtern.“
„Hm.“ Die Kranke überlegte kurz und grinste dann breit. „Jetzt weiß ich endlich, warum es Genies und Idioten auf dieser Welt gibt.“
„Was?“ Bryan war ein wenig irritiert, weil er den Gedankengängen seiner Tochter nicht gleich folgen konnte.
„Na, die Superhirne auf diesem Planeten.“ Yza lachte. „Endlich habe ich eine Erklärung dafür, wieso die fähig sind, Dinge zu erfinden oder zu entwickeln, die jedem Normalsterblichen wie Wunder vorkommen.“ Sie hatte mittlerweile eine akzeptable Liegeposition gefunden und entspannte sich. „Ihr Talent, oder besser gesagt, ihr Wissen, stammt ganz sicher von ihren außerirdischen Bewusstseinsanteilen. Auf jeden Fall klingt das für mich glaubwürdiger als die These, dass sich ein primitives Affenhirn im Laufe der Evolution zu einem Hochleistungscomputer gemausert hat, dass Raketen für den Flug in den Weltraum entwickeln und Roboter bauen kann, die kaum noch von einem Menschen zu unterscheiden sind. Ganz zu schweigen von den Leuten, die Gedanken lesen oder kommende Ereignisse voraussagen können.“
Bryan überdachte die Aussage seiner Tochter, während er einen großen Schluck aus seiner Teetasse nahm. Ganz falsch lag sie damit vermutlich nicht, musste er sich eingestehen. Allerdings konnte ihre Theorie weder erforscht noch bewiesen werden, denn dafür hätte es Personen geben müssen, die an ihre eigene Reinkarnation glaubten und die sich für Tests zur Verfügung stellten. Doch das würde niemand freiwillig auf sich nehmen, selbst wenn er tatsächlich zu den Wiederkehrern gehörte. Eine Laborratte zu sein, der man diverse, möglicherweise schmerzhafte Experimente zumutete, war selbst unter bestmöglichen Bedingungen garantiert keine angenehme Sache.
„Dad?“ Yza stupste ihren Vater sanft an. „Schläfst du?“
„Nein, Liebes“, erwiderte er, indem er seine Tasse beiseitestellte. „Ich war nur mit den Gedanken abgeschweift. Aber jetzt geht es weiter.“
1
Phillip
Wo er sich gerade befand, konnte der verwirrte Mann nicht einordnen. Selbst sein Name wollte ihm nicht mehr einfallen. Zudem konnte er nicht verstehen, warum er sich so merkwürdig fühlte. Als ob er fliegen würde. Nicht in einem Flugzeug oder mit einem Drachen. Nein. Es fühlte sich an, als ob er direkt von den unterschiedlich temperierten Luftschichten auf und ab geschaukelt würde. Als hätte er Flügel, die von einer aufwärts wirbelnden Thermik nach oben gedrückt wurden, spürte er gleichzeitig den Luftzug an seinem Körper entlangstreichen.
Die Augen öffnend, blickte er um sich. Dass er tatsächlich frei in der Luft schwebte, erschreckte ihn im ersten Moment so sehr, dass er zunächst nicht in der Lage war, vernünftig zu denken. Im nächsten jedoch erwachte seine Neugierde, sodass er seinen Blick in einem weiten Rund schweifen ließ.
Eine sonnenüberflutete, in verschiedenen Farben leuchtende Landschaft lag wie ein bunter Teppich unter ihm. Große und kleine Tiere grasten friedlich im Schutze ihrer Herden. Andere rannten über eine ausgedehnte, überwiegend baumlose Ebene vorwärts, und änderten die Richtung ihres Laufs, sobald ein Hindernis auftauchte. Auch Bach- und Flussläufe konnte er ausmachen, die immer breiter wurden, bis sie in einen scheinbar grenzenlosen Ozean mündeten. Als er dann endlich registrierte, dass er keinen menschlichen Körper mehr besaß, sondern wie ein Vogel aussah, verlor er für einen Moment seine Fassung.
„Ruhig! Du bist bloß verwirrt, weil du lange nicht mehr auf dieser Bewusstseinsebene gewesen bist.“
Woher die Stimme kam, oder zu wem sie gehörte, konnte er nicht einordnen. Allein der Klang kam ihm seltsam vertraut vor und sorgte dafür, dass sein Schock allmählich nachließ. Als er jedoch realisierte, dass der Vogel mittlerweile weitergeflogen war, er hingegen immer noch an gleicher Stelle schwebte, stieg neue Furcht in ihm auf, weil er nicht verstand, was mit ihm passierte. Vor allem die Tatsache, dass er keine sicht- oder greifbare Gestalt besaß, ließ seine Panik sprunghaft anwachsen.
„Du musst keine Angst haben“, versuchte man ihn zu beruhigen. „Es ist alles in Ordnung. Du bist bloß durcheinander, weil du diesmal ohne Vorwarnung zu deiner Reise aufgebrochen bist.“
Reise?
Was denn für eine Reise?
„Du machst gerade eine Bewusstseinsreise“, erklärte ihm die körperlose Stimme. „Dein Geist befindet sich momentan auf einer anderen Bewusstseinsebene und ist zudem nicht an die Zeit gebunden, der alle Luft atmenden und Schmerz empfindenden Geschöpfe unterworfen sind.“
Was sollte denn dieser Blödsinn?
Wieso andere Bewusstseinsebene?
War er etwa vollkommen durchgeknallt?
Oder erlebte er bloß einen fürchterlichen Rausch?
Nein, entschied er nach kurzer Überlegung. Bis zur Besinnungslosigkeit gesoffen hatte er bestimmt nicht, denn ihm wurde schon nach drei Gläsern so schlecht, dass er nichts mehr herunterbekam. Es blieb daher nur die andere Sache. Er konnte sich zwar nicht erinnern, wann und wo das passiert sein sollte, aber er ging nun davon aus, dass man ihn unter Drogen gesetzt hatte, sodass er jetzt halluzinierte. Es gab nämlich keine andere Erklärung für diese vollkommen verrückte Situation. Bestimmt hatte ihm jemand etwas in sein Essen oder in seinen letzten Kaffee getan, um sich jetzt einen gemeinen Spaß mit ihm zu erlauben. … Aber neugierig war er doch. Besser gesagt wollte er jetzt herausfinden, wieso die unsichtbare Sprecherin so auf seine Gedanken reagierte, als hätte sie diese gehört. Außerdem wäre es interessant, herauszufinden, inwieweit er seinen Drogen-Trip beeinflussen oder kontrollieren konnte.
„Wer bist du? Zeig dich“, verlangte er.
„Wer oder was ich bin, ist jetzt nicht von Bedeutung“, antwortete man ihm. „Wichtig ist allein, dass du dich auf deinen menschlichen Körper konzentrierst und zu ihm zurückgehst.“
Es war eindeutig eine Frauenstimme, da war er sich jetzt absolut sicher. Aber zu wem gehörte sie? Und was meinte sie mit ihrer seltsamen Aufforderung?
„Du bist auf dem falschen Weg“, ließ man ihn wissen. „Wenn du dich nicht konzentrierst, wirst du nicht mehr zurückfinden.“
Zurück?
Was hieß denn, zurückgehen?
Wohin?
Und vor allem, warum?
„Weil sonst ein Mensch stirbt, der wichtig ist.“
Es war nach wie vor eine weibliche Stimme, die in seinem Bewusstsein widerhallte. Sie hatte sich jedoch grundlegend verändert. Konnte man vorher Sorge aus dem Tonfall erkennen, war nun Ungeduld herauszuhören. Außerdem war der Klang anders und wollte ihn an etwas erinnern, was er im Augenblick jedoch nicht erfassen konnte.
„Derya! Hilf mir!“
Mit einem Mal hatte er nicht nur das Gefühl, als würde er gepackt und mitgezerrt. Er konnte plötzlich auch zwei Lichtgestalten erkennen, die links und rechts von ihm ebenfalls in der Luft schwebten. Allerdings glichen sie nicht Vögeln, sondern silbern und golden schimmernden Gespenstern, mit langen, wehenden Haaren und hellen Augen. Das Sonderbarste jedoch war, dass auch er jetzt so aussah wie sie. Zum einen war es beruhigend, eine sichtbare Gestalt zu haben. Zum anderen aber auch wieder beängstigend, denn er konnte beinahe durch seine Hand hindurchsehen, so als wäre sie aus golden mattiertem Glas gemacht.
„Zu seinem Menschen“, verlangte das golden glänzende Lichtgeschöpf an seiner linken Seite. „Wir müssen uns beeilen.“
Nahezu sofort veränderte sich seine Umgebung. Und so fand er sich mit einem Mal in einem hellen Raum wieder, in welchem es auf den ersten Blick nur ein großes Bett zu geben schien, das von verschiedenen Gerätschaften umgeben war. Die ständig blinkenden Lichter irritierten ihn zunächst so sehr, dass er die beiden Menschen erst nach genauerem Hinsehen bemerkte.
Da lag ein schlafender, ziemlich blass wirkender Mann in einem Krankenhausbett, stellte er für sich fest. Aber was hatte das mit ihm zu tun? Und die andere Person, die zusammengesunken neben dem Bett auf einem Stuhl saß. Wer war das? Warum fühlte er beim Anblick der Frau so große Wiedersehensfreude? Und wieso meinte er, dass er allein durch ihre Anwesenheit gewärmt und getröstet wurde?
Seiner Sehnsucht folgend wollte er an die zusammengesunkene Gestalt herantreten und das kupferfarbene Haar berühren, damit die Frau den Kopf heben und ihn ansehen sollte. Doch dann wurde ihm bewusst, dass dies ganz unmöglich war. Außer einer nicht greifbaren Illusion von einer eigenen, wenn auch gespensterhaften Gestalt und seinen Gedanken war ihm nichts geblieben. Weder ein realer Körper, den er willentlich steuern konnte, noch das andere Wesen, welches ihn seit ewigen Zeiten begleitete. Und das war eine Katastrophe, denn es war ein unverzichtbarer, ja, es war lebensnotwendiger Teil seiner selbst gewesen!
Als würde die Frau seine Anwesenheit spüren, hob sie den Kopf und sah ihn an. Zumindest wollte es ihm scheinen, als ob ihre strahlend blauen Augen ihn direkt fixierten. Doch das war noch nicht alles. Bei näherer Betrachtung wurde nämlich erkennbar, dass vor dem erschöpft wirkenden Frauengesicht ein anderes schwebte, welches ihm wie das Antlitz eines goldschimmernden Engels vorkommen wollte. Und das kannte er sehr gut, denn es gehörte jemandem, der ihm wichtiger war als sein eigenes Leben.
„Weißt du jetzt, warum du zurücksollst?“
Die Frage riss ihn jäh aus seiner Betrachtung.
„Nein? Ich werd’s dir sagen. Der Körper da, der da so jämmerlich aussieht, ist deine menschliche Hülle in diesem Leben. Und die Frau ist eine von mehreren Menschen, die dich jetzt mehr brauchen, als du ahnst. Man hat euch in diesem Leben für eine Aufgabe vorgesehen, die ihr nur gemeinsam bewältigen könnt. Also wird es Zeit, dass du wieder zu deinem Symbionten zurückkehrst. Wenn du es nämlich nicht tust, wird deine menschliche Hülle ein geistloses Wrack bleiben, weil sein Bewusstsein unwiderruflich mit dem deinen verschmolzen ist und darum nicht eigenständig zurückgehen oder sonst wie handeln kann. Es gibt aber noch einen wichtigeren Grund für dich, zu deinem Träger zurückzukehren. Wacht der Menschenmann nicht auf, wird die Frau nicht das tun, was sie soll. Und das wäre fatal für uns alle.“
Er wandte sich nach links, um zu ergründen, wer die Frau war, die ihm so vehement zusetzte. Allerdings war sie jetzt genauso wenig zu sehen, wie das Wesen zu seiner Rechten. Auch er war jetzt nicht mehr als Form besitzende Erscheinung erkennbar.
„Was suchst du?“, wurde er im ungnädigen Tonfall gefragt.
„Dich“, gab er zur Antwort. „Warum kann ich dich nicht mehr sehen?“
„Weil Derya wieder gegangen ist“, gab man ihm zur Antwort. „Sie hat Besseres zu tun, als darauf zu warten, dass du dich wieder mit deinem Träger vereinst.“
„Wer ist Derya?“ Er wusste, er strapazierte die Geduld seiner Gesprächspartnerin jetzt schon zu lange. Dennoch wollte er nicht auf die Antwort verzichten.
„Sie ist die Bewahrerin des Wissens und die Hüterin der Großen-Gemeinschaft. Zudem hat sie die Gabe, uns auch auf dieser Bewusstseinsebene sichtbar zu machen, was uns schon viele Male von Nutzen gewesen ist. Du hingegen bist ein Reisender, der in die Zukunft wandern kann, um kommendes in Erfahrung zu bringen, damit wir gewarnt sind und entsprechend reagieren können.“ Die Stimme der unsichtbaren Frau verriet, dass sie nicht länger diskutieren wollte. „Und jetzt los!“
Was bildete sie sich eigentlich ein?
Wie kam sie denn dazu, so mit ihm zu reden?
Er war doch kein unmündiges Kind, dachte er in einem Anflug von Trotz.
„So, wie du dich momentan benimmst, könnte man tatsächlich meinen, dass du eines bist“, wurde ihm auf seine Feststellung hin im herablassenden Tonfall beschieden.
„Du redest, als wärst du meine Mutter“, empörte er sich.
„Es reicht jetzt, Arvyd. Die Zeit drängt.“
Allein der Klang des Namens bewirkte, dass seine Erinnerungen von jetzt auf sofort und in ihrer vollständigen und ziemlich verwirrenden Gesamtheit wieder präsent waren, so als wären sie einem Speicher entwichen, den man bisher fest versiegelt hatte. Sie durfte tatsächlich so mit ihm reden, gestand er sich ein. Immerhin war sie nicht nur ein sehr mächtiges Geschöpf, sondern auch die Frau, der er seine Existenz zu verdanken hatte.
„Also gut.“ Er mochte nicht mit ihr streiten, auch wenn die Versuchung immens groß war, ihr die eigenen Schwächen vor Augen zu führen. „Ich hab’s verstanden. Sag mir nur noch eines. Warum hat man mich von meiner Gefährtin getrennt?“
„Eure Verbindung kann nicht aufgelöst werden, denn sie wurde vor der Höchsten-Macht durch Xeyos Tränen besiegelt“, bekam er im ungeduldigen Tonfall zur Antwort. „Allein deine Überzeugung, du wärst auf einmal von allen verlassen, hat dazu geführt, dass du völlig durcheinandergeraten und deshalb ausschließlich deinem Irrglauben gefolgt bist, statt vernünftig nachzudenken. Und so hast du auch nicht begriffen, dass es deine Gefährtin gewesen ist, die anfangs versucht hat, dich auf den richtigen Weg zu bringen. Und deshalb bin ich jetzt hier.“
„Danke.“ Er war ihr wirklich zutiefst dankbar dafür, dass sie ihn zur Raison gebracht hatte, weil er sich sonst tatsächlich vollends verirrt und am Ende wahrscheinlich aufgegeben hätte.
„Na dann.“ Es hörte sich an, als würde sie einen erleichterten Seufzer von sich geben. „Bring es endlich hinter dich.“
Eine weitere Aufforderung brauchte er nicht, denn er war schon auf dem Weg, um seine menschliche Hülle wieder in Besitz zu nehmen. Allerdings war er kaum eingetaucht, da griff auch schon der reale Schmerz des Menschenmannes nach ihm, um ihn sogleich vollständig einzunehmen. Und so fühlte er anschließend nur noch das Bohren und Hämmern innerhalb seines Schädels, während das zuletzt Erlebte genauso verblasste wie sein Wissen um die Besonderheit seiner Persönlichkeit. Er meinte schon, die Folter würde auf ewig so weitergehen, da ließ die Pein so plötzlich nach, als hätte jemand sie anhand eines Schalters einfach ausgeknipst.
2
Elisabeth war nach der mehrstündigen Operation ihres Mannes sofort an sein Bett geeilt, um da zu sein, wenn er die Augen wieder aufschlug. Weil er dies jedoch sehr lange nicht tun wollte, war sie neben seinem Bett auf einem Stuhl sitzend eingedöst. Doch dann war sie mit rasendem Puls hochgeschreckt und hatte gemeint, da wäre jemandem ganz nahe an sie herangetreten. Da sich in diesem Augenblick aber weder der zuständige Krankenpfleger noch der Stationsarzt im Raum befanden, schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Jetzt sah sie schon Gespenster, dachte sie voller Selbstironie. Dabei war da niemand außer ihr und Phillip.
Nein, das stimmt ja gar nicht, stellte Elisabeth gleich darauf fest. Da war eine kleine, unscheinbar wirkende Krankenschwester, die gerade eine neue Infusion in Phillips Vene einlaufen ließ. Dabei handelte es sich vermutlich um das Schmerzmittel, welches in regelmäßigen Abständen verabreicht wurde, damit der Operierte sich nicht quälen musste.
Dass sie eingeschlafen war, verwunderte Elisabeth keineswegs, denn sie hatte einen sehr langen Tag und zudem eine Menge Aufregung hinter sich. Aber etwas Anderes war durchaus bemerkenswert. Sie hatte geträumt. Und das war eine höchst merkwürdige Sache gewesen, weil ihr Schlaferlebnis wie ein langer und sehr detailreicher Film gewirkt hatte. Ein fantastischer Film sozusagen. Aber trotzdem so real erscheinend, als handele es sich dabei um die chronologische Abfolge eines kompletten, längst vergangenen Lebens. Am Ende war sie sogar geflogen, erinnerte sie sich. Wie ein Vogel. Aber nicht allein. Vielmehr war es ihr so vorgekommen, als wäre sie an der Seite eines anderen Geschöpfes durch die Luft geglitten, mit dem sie sich tief verbunden fühlte. Es war sogar gesprochen worden. Und sie war sehr besorgt gewesen, weil der Flug nicht enden wollte und sie genau gewusst hatte, dass das nicht ohne Gefahr war. Und dann … Ihr unsichtbarer Begleiter war plötzlich nicht mehr zu spüren gewesen, sodass sie für die gefühlte Dauer einer Ewigkeit allein und vollkommen orientierungslos herumwirbelte. Am Ende war eine wunderschöne Lichtgestalt an ihrer Seite aufgetaucht und hatte sie an die Hand genommen, um sie ins Krankenhaus zurückzubringen. Dort hatte sie sich dann neben ihrem zusammengesunkenen Körper wiedergefunden und war sogleich in diesen eingetaucht.
Ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Schlafenden richtend, setzte sich Elisabeth seufzend zurecht. Seit über zehn Stunden lag Phillip nun hier, rührte jedoch keinen Finger. Dabei hatte ihr der Stationsarzt während der Morgenvisite versichert, dass sein Patient eigentlich über die Krise hinweg sei. Es gäbe weder ein Hinweis auf erneute Blutungen noch einen anderen Grund dafür, warum er nicht aufwachen könnte. Alle Werte wären in bester Ordnung, was nach einem solch komplizierten Eingriff sehr positiv zu bewerten sei. Warum er trotzdem nicht zu sich kommen wollte, sei daher nicht wirklich nachvollziehbar.
Elisabeth fixierte das Gesicht des Schlafenden, so als würde sie ihn anhand der Kraft ihres Blickes in die Wirklichkeit zurückholen wollen. Sie konzentrierte sich dabei so sehr auf ihren Wunsch, dass sie das Hinausgehen der Krankenschwester gar nicht wahrnahm. Als sie schließlich realisierte, dass ihr Mann allmählich wach wurde, musste sie an sich halten, um nicht laut zu jubeln. Sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, blieb sie still sitzen, um ihm ausreichend Zeit zu geben, damit er vollends wach wurde.
Phillip war nach wie vor noch etwas benebelt und sah sich entsprechend unsicher um. Der Anblick des für ihn völlig fremden Raumes beunruhigte ihn, obwohl er sich merkwürdigerweise im Klaren darüber war, dass er aus gutem Grund in einem Krankenhausbett lag. Trotzdem war ihm das Flimmern, welches in den Farben des Regenbogens an den hellen Wänden auf und ab raste, ebenso unangenehm, wie die grellen Lichter, die über seinem Kopf ständig an und ausgingen.
Sobald Phillips Blick auf die Frau traf, die neben seinem Bett saß, stutzte er sichtlich. Er wusste, er hatte sie zuvor schon mehrfach gesehen und wahrscheinlich auch mit ihr gesprochen. Aber kennen tat er sie nicht. Und einen Namen konnte er ihr auch nicht zuordnen. Sie war schön, ja. Ein Engel hätte nicht schöner sein können. Allein ihr Anblick bescherte ihm eine tiefe Sehnsucht, die so intensiv war, dass es ihm vorkommen wollte, als würde man ihm jeden Augenblick das Herz aus dem Leibe reißen. Aber wer war sie?
Beim Grübeln über seine letzte Frage, und betäubt durch das starke Schmerzmittel, dämmerte Phillip wieder ein.
…